Eine tote Ehefrau, ein toter Sohn: Bilanz einer schrecklichen Nacht, die für Mickey niemals zu enden scheint.
Fünfzehn Jahre hat er wegen Mordes im Gefängnis verbracht. Nun kehrt Mickey zurück nach "Haus Seeblick", einen dunklen Ort, an dem er sich den Geistern und Dämonen seiner Vergangenheit stellen muss. Ein erbarmungsloser Kampf mit einem übermächtigen Gegner, um die Seelen seiner Liebsten beginnt. Ein Kampf auch um seine eigene Seele.
Die Liebe endet nicht mit dem Tod.
... der Junge weinte. Dustin. Mickey erkannte das mit Tränen und Rotz verschmierte Gesicht seines Sohnes. Dustin zitterte am ganzen Körper. Stumpfe Tränen kullerten ihm über die Wangen, tropften herunter und verschwanden in der Dunkelheit. Immer wieder blickten sich die beiden um, als würde dort hinten, in der endlosen Schwärze etwas lauern. Irgendwas, vor dem sie sich unsagbar fürchteten.
Er begriff, dass Susan ihm eine Nachricht vermitteln wollte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er verstand kein Wort. Sie befand sich nur noch zwei Handbreit vor ihm und er erkannte den kleinen Leberfleck in Herzform auf ihrer linken Wange. Er wollte sie berühren, sie in den Arm nehmen und beruhigen. Er wollte ihr Gesicht streicheln und seine Finger über ihre graue Haut gleiten lassen. Doch als er seine Hand nach ihr ausstreckte, traf er auf Widerstand, als würde eine unsichtbare Wand zwischen ihnen bestehen. Ein Gefühl als berührte man kaltes, durchsichtiges Eis ohne seine typischen, durch Luftbläschen entstandenen Unregelmäßigkeiten. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, dass man nicht in Worte packen konnte. Eine fremde bösartige Präsenz.
Wieder diese hastigen, ängstlichen Blicke tief in die Dunkelheit hinein, die sich hinter ihnen edlos auszudehnen schien. Er fühlte den Schmerz, schmeckte ihre Angst. Das Andere schien sich zu nähern, weit hinten aus der Finsterniss zu ihnen zu kriechen. Was auch immer es war, es wollte nicht, dass sie miteinander kommunizierten.
Susan begann hektisch mit den Armen zu gestikulieren und formte mit den Händen eine Figur. Es schien ihr wichtig. Tränen quollen wie kleine Eisklumpen aus ihren Augen und rannen in dünnen Rinnsalen die Wangen herab. Sie drückte den kleinen Dustin eng an sich und strich behutsam über seine braunen Haare.
Susan wurde panisch, fing erneut an zu schreien und schlug mit der Faust gräuschlos an das unsichtbare Eis. Ihr Atem kondensierte und blieb an der Trennwand hängen, wo er einen milchigen Fleck bildete. Dann schaute sie zurück und wurde ruhiger. Ihre Gesichtszüge entspannten sich.
Susans Händfläche blieb auf der unsichtbaren Barriere liegen. Er verstand die Geste und legte seine deckungsgleich auf die andere Seite.
Sie lächelte und schien sich mit dem Kommenden abzufinden. Ihre spröden Lippen formten drei Worte. Worte, die er auch ohne Laut verstand.
ICH LIEBE DICH
Er wiederholte sie und während er ihr Lächeln erwiderte, bildeten sich Risse in der Eiswand; zogen sich kreuz und quer von ihren Händen ausgehend in alle Richtungen. Die Trennschicht wurde spröde und dadurch immer undurchsichtiger. Für einen kurzen Augenblick erkannte er, durch Millionen feinster Risse, wie Spinnenweben, eine dunkle Aura, die sich hinter seiner Frau und seinem Sohn aufbaute. Dann schlossen die nächsten Spinnenweben die letzten Lücken und als er seine Hand zurückzog, durchfuhr ihn ein unsagbarer Schmerz. Als würde er in siedendes Wasser getaucht, dass ihm das Fleisch von den Knochen kochte. Er schrie.
Und als der Schrei anfing in seinen Ohren zu klingeln, wurde er wie an einem unsichtbaren Gummiband zurückgezogen. Fort von der Wand. Die Schneeflocken rasten mit ungeheurer Geschwindigkeit an ihm vorbei. Sein Schreien wurde lauter, steigerte sich zu einem schrillen Gekreische und als er dachte, er müsste verbrennen, wurde er wach.
Schweißgebadet saß Mickey in seinem Bett. Sein Herz raste so heftig, dass er froh war, mit vierundvierzig immer noch fit zu sein, sonst wäre die Pumpe sicherlich stehen geblieben. Sein Puls beruhigte sich und er fand sich langsam wieder zurecht. Mickey sortierte seine Gedanken, wusste nun, wo er sich befand und dass Susan und Dustin seit fünfzehn Jahren tot waren.
Durchgeschwitzt und schwer atmend legte er sich auf das Bett zurück. Seine Hand tastete durch die Dunkelheit, fand die Nachtischlampe und schaltete sie an. Kaltes Licht flutete den Raum und legte ein schäbiges Hotelzimmer frei. Sein Blick blieb kurz an der schlecht gestrichenen Decke kleben. Er dachte über den Traum nach, der ihn mittlerweile seit fünfzehn Jahren quälte. Aber irgendetwas war diesmal anders. Schlaftrunken wischte er sich das verschwitzte Haar aus der Stirn und dann fiel es ihm ein: Ihre Hände hatten eine Figur geformt. Das kam in den anderen Träumen nicht vor, dazu kam sie nie, da die Spinnenweben ihr immer zuvor gekommen waren. Mickey wusste was sie mit ihren Händen geformt hatte. Und er wusste auch warum.
"Haus Seeblick, du hast uns unser Ferienhaus gezeigt", flüsterte er und ihm schauderte. Dann schaltete Mickey das Licht aus. Als er sich wieder auf die Seite drehte ...
NEUGIERIG geworden?
Auszug aus dem neuen Roman "GOTTVERLASSEN"
Erscheinungstermin Mai 2018
Tom betrachtete sich in der Scheibe und sah einen vierzigjährigen Mann, mit vollem Haar und Brille, der sich vor sich selbst in einem kleinen Ort im Harz versteckte. Der Schirm in seiner Hand schützte ihn zwar vor dem Regen, doch er konnte nicht seine Seele vor dem bewahren, was wie ein Feuer in ihm wütete. Ein Feuer, das ihn von seiner Familie fortgetrieben und nach Hallermanns Berg geführt hatte. An den Arsch der Welt, wie Tom es nannte. Hier wollte er wieder zu sich selbst finden. Sabine hatte ihm zum Abschied geraten, er solle nicht zu lange suchen. Das war vor einem Jahr gewesen. Das einzige, was er bis jetzt gefunden hatte, waren weitere Selbstzweifel und Dorothea; eine gute, mütterliche Freundin, in deren Obergeschoss er nun zur Miete wohnte.
Tom trat einen Schritt zurück, klemmte sich die Brötchentüte unter den Arm und strich sich die Haare glatt. Dann streckte er seinem Spiegelbild die Zunge heraus. Als er sich umdrehte, sah er auf der anderen Straßenseite jemanden im Vorgarten stehen. Jemanden ohne Jacke, mitten im Regen.
Nach einem kurzen Innehalten erkannte Tom Greta Rausch, die wie ein zu groß geratener Gartenzwerg, in einem grauen Pullover, Trainingshose und Hausschuhen neben einem großen Rhododendronbusch am Gartenzaun stand und über den Zaun zu ihm hinüberblickte. So wie sie dastand, wirkte sie noch verlorener als er.
Tom überquerte eilig die leere Straße, wich hüpfend einer tiefen Pfütze aus und trat mit einem unguten Gefühl in der Magengegend vor die völlig durchnässte Frau. Einige graue Haarsträhnen hatten sich aus dem Knoten auf ihrem Kopf gelöst und hingen ihr wie glitschige, kleine Schlangen im Gesicht. Wasser tropfte von den Fingerkuppen und dem Kinn, ihre Hausschuhe hatten sich vollgesogen wie Schwämme. Der graue Pullover klebte als zweite Haut am Körper und ihm fiel auf, wie abgemagert sie wirkte.
„Warum stehen Sie hier im Regen? Ist Ihnen nicht gut? Kann ich vielleicht helfen?“, fragte Tom, bekam aber keine Antwort. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie in Gedanken überhaupt nicht mehr auf diesem Planeten.
„Frau Rausch, alles in Ordnung? Fehlt Ihnen was? Sie sollten wirklich reingehen. Es regnet in Strömen“, sagte Tom und unter normalen Umständen hätte er sich für diese so offensichtliche Aussage geohrfeigt. Doch das hier war keine normale Situation. Ganz und gar nicht. Über ihre Schulter hinweg sah er, dass die Haustür offen stand. Eine Katze huschte über den Flur.
„Kommen Sie, ich bringe Sie rein. Sie holen sich hier ja den Tod.“ Doch als er den Arm nach ihr ausstreckte, trat sie einen Schritt zurück und wich ihm aus.
„Es ist soweit“, sagte sie in einem melancholischen Singsang, der Tom auf der Stelle eine Gänsehaut verpasste. Sie sprach leise, ohne ihn anzusehen.
„Wir werden für unsere Sünden bezahlen. Wir alle.“
„Wovon reden Sie, Frau Rausch?“, fragte Tom, dem immer unbehaglicher zumute wurde. Mittlerweile hielt er seinen Schirm über sie. Seine Brötchentüte weichte nun völlig auf. Das war Tom aber egal, er konnte den Blick nicht von Greta Rauschs versteinertem Gesicht abwenden.
„Er wird kommen, doch diesmal nicht um sich zu paaren, sondern um sich seine Belohnung zu holen. Oh ja, seine Belohnung. Und wir werden für unsere Sünden bezahlen.“
„Ich verstehe das nicht. Was meinen Sie mit: Er wird kommen?“
„Der Unreine wird hinaufsteigen, so wie er es schon in den Jahrhunderten zuvor getan hat. Hinauf auf den Brocken, um sich mit den Hexen zu paaren“, sagte Greta und ihr Gesicht nahm nun einen wütenden Ausdruck an. Sie zog die Oberlippe hoch und entblößte einige Lücken zwischen den gelblichen Zähnen.
„Wer will sich mit den Hexen paaren?“, fragte Tom völlig überrascht. Ein Wagen fuhr an ihnen vorüber und Tom spürte förmlich den fragenden Blick des Fahrers, der sich bei dem Anblick einer komplett durchnässten älteren Frau beinahe den Hals verdrehte.
„Sie kennen die Geschichte nicht? Sie unwissender Wurm. Und so etwas wie Sie wohnt in Hallermanns Berg. Hier kennt jedes Baby die Geschichte.“
Greta Rausch trat unter seinem Schirm hervor und stellte sich in eine schlammige Pfütze auf dem Rasen. Trotzig verschränkte sie die Arme vor ihrer schmalen Brust. Die Bündchen ihres Strickpullovers waren so durchtränkt, dass sie vom Gewicht des Wassers herunterhingen. Sie war wütend und Tom wusste nicht warum. Wegen dieser Geschichte, die er anscheinend nicht kannte? Das war absurd. Einfach lächerlich. Die Bewohner von Hallermanns Berg waren auf ihre Art schrullig, aber so etwas wie jetzt hatte er noch nicht erlebt.
Die Situation erinnerte Tom an eine Begegnung, die er vor einigen Jahren in einer Berliner U-Bahn gehabt hatte, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war. Damals war auf der Fahrt vom Adenauer- zum Wittenbergplatz ein ziemlich zerlumpter Obdachloser an ihn herangetreten und hatte laut trompetend das Ende der Welt verkündet. Er hatte Tom versichert, wenn er ihm zwei Euro gebe, würde er verschont bleiben. Tom hatte ihn daraufhin gefragt, was er denn als einziger Mensch auf einer völlig zerstörten Welt machen solle. Er hatte dem Obdachlosen erklärt, dass er sich so für zwei Euro die Hölle auf Erden kaufen würde. Kurz darauf war der Penner laut schimpfend in ein anderes Abteil verschwunden. Greta hatte genau diesen Blick, der das Ende der Welt verkündete. Nur meinte sie es anscheinend ernst.
„Ich dachte, dass Dorothea Ihnen einiges über diesen mystischen Ort erzählt hätte. Eine so wichtige Sache kann man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Anscheinend ist sie doch nicht so zuverlässig wie ich dachte. Egal, ich werde Sie aufklären. Sie sollen ja nicht dumm sterben. Und so, wie ich das sehe, steht uns das allen sowieso bald bevor.“
Tom wollte Greta fragen, warum ihnen das bevor stehe und wie sie darauf komme, aber sie gab ihm keine Gelegenheit dazu. Ungestüm packte sie seinen Arm und zog ihn zu sich heran. Tom roch ihren Atem: Zigaretten und bitterer Kaffee. Er sah ihre Haut, die grau und eingerissen wirkte. Falten, so tief wie der Mariannengraben. Er sah in ihre Augen, die einen seltsam, verrückten Schimmer angenommen hatten. Und er spürte seinen Magen, der sich zu einem gewaltigen Knoten zusammengezogen hatte und rebellierte.
Da ist etwas im Gange, dachte Tom. Meine Güte, irgendwas stimmt nicht mit ihr.
Als sie sprach, tat sie das leise und schaute sich dabei nervös zu allen Seiten um.
„Der Ausgangspunkt ist der Brunnen. Den Steinbrunnen auf dem Marktplatz meine ich. Er ist so alt wie die Welt. Vielleicht noch älter und nicht nur der Mittelpunkt von Hallermanns Berg, sondern das Zentrum unseres Planeten. Er war vor Hallermanns Berg da und wird immer noch dort sein, wenn Hallermanns Berg nur noch Asche und Staub ist. Die ersten Siedler hatten ihre Häuser um den Brunnen herumgebaut und ihn als Heiligtum verehrt. Seit Jahrtausenden dient er dem Unreinen als Aufstieg in unsere Welt. Er kommt, um auf den Brocken zu wandern. Dort paart er sich mit willigen Hexen. Doch diesmal kommt er nicht einfach nur, um mit den Hexen Unzucht zu treiben, nein, diesmal kommt er, um diesen Sündenpfuhl dem Erdboden gleichzumachen. Um alles Übel hier auszuradieren.“
Tom kannte die Geschichte vom Brunnen tatsächlich nicht. Und obwohl es offensichtlich eine alte Legende war, die unter den Bewohnern von Hallermanns Berg grassierte und die sie wahrscheinlich den Touristen als Appetithappen auftischten, lag in der Stimme von Greta Rausch etwas Unerschütterliches. Die Gewissheit, dass dies keine Legende war, sondern jedes Wort exakt der Wahrheit entsprach. Tom hatte ihre Hände beobachtet, die beim Sprechen wie die Scheren eines Hummers auf und zu schnappten. Ihre Augen schienen nun noch mehr zu glänzen.
„Der Brunnen führt hinunter in die tiefste Hölle. Und der Unreine nimmt ihn als Aufstieg“, wiederholte Greta. Dann packte sie noch fester zu, mit einer Kraft, die Tom bei dieser schmalen Frau nicht erwartet hatte, zog sich an sein Ohr heran und flüsterte, wobei sich ein feiner Sprühregen aus Spucke löste: „Machen Sie, dass Sie hier weg kommen, bevor es zu spät ist. Retten Sie Ihre Seele. Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange.“
Mit diesen Worten ließ sie seine Jacke los und schlurfte, ohne sich noch einmal umzudrehen, zur Haustür zurück. Tom war zu verdutzt, um schnell zu reagieren und als er fragte, wer den Brunnen emporsteigen würde, hatte sie die Haustür mit einem lauten Knall geschlossen.